· 

Verlust, Nexus und Systemsturz

Mal wieder die Frankfurter Buchmesse besucht – und ja, es hat sich gelohnt! Neue Eindrücke mitgenommen, spannende Gespräche geführt und inspirierende Gäste auf den Bühnen gehört – los geht's mit Andreas Reckwitz.

 

Der Traum von einer leuchtenden Zukunft

Wir wollen einfach nicht loslassen vom Fortschrittsdenken, darin liegt auch m. M. ein großes Dilemma unserer Zeit. Andreas Reckwitz spricht von der Spätmoderne – und ja, auch wenn ich glaubte, wir wären längst über das Denken der Moderne hinweg, belehrt mich die Realität eines besseren.

 

In seinem neuen Buch setzt sich der Soziologe mit dem Verlust auseinander und nennt ihn ein Grundproblem der Moderne. Noch immer klammern wir uns an die Fortschrittshoffnung, dass alles besser wird, dass alles schneller geht und wir noch höher hinauskommen. Dass die Zukunft leuchtender als die Gegenwart wird – und als die Vergangenheit sowieso. Aber irgendwas stimmt daran gerade nicht mehr. Plötzlich haben wir Angst, dass wir etwas verlieren, dass wir etwas abgeben müssen, dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Zumindest als Gesellschaft. Es gibt kaum mehr große soziale Utopien, stattdessen retten wir uns in ein nostalgisches „Retrotopia“ und in wütende „Great-Again“-Kampfansagen. Doch zugleich steigern sich die individuellen Erwartungen an die Zukunft, dass es „mir selbst besser gehen wird“ – auch wieder so ein Ding der Moderne, die Individualisierung. Mit der Gesellschaft geht's bergab, aber mir selbst wird's besser gehen – das ist nicht nur paradox, das ist schlichtweg Unsinn!

Bye-Bye und Ciao Moderne!

 Wir werden mit Verlusten leben lernen müssen, ihnen ins Gesicht sehen müssen, hier kommt wieder die Resilienz ins Spiel. Der Tod ist wohl der größte Verlust – und auch eines der größten Tabuthemen in der westlichen Individualgesellschaft. Dabei gehört er zum Leben, wie ein Auf und Ab, wie Freude und Leid. Diese Vorstellung, ein Recht auf Glücklichsein zu haben, treibt den Menschen immer mehr an, er gönnt es sich nicht mehr innezuhalten, nach innen gerichtete Trauer wird in nach außen gerichtete Wut umgewandelt.

Es fühlt sich ein wenig so an, als würden die Fortschrittsmotoren gerade leer laufen, weiter im Takt, immer schneller, doch die Menschen sind nicht mehr da, sie irgendwo verloren gegangen im „rasenden Stillstand“. Zurück bleibt Menschen-Leere. Lassen wir sie los, lassen wir sie laufen, die Moderne! So könnten wir dann hoffen, dass wir in der Postmoderne angekommen das Menschliche zwischen uns wiederfinden.

Mit Systemsturz in die Zukunft

Ein weiteres Highlight für mich war der Talk des Historikers Yuval N. Harari und des Philosophen Kohei Saito. Die beiden Shootingstars scheinen nur wenig gemeinsam zu haben: Der israelische Historiker blickt zurück auf die großen Themen der Menschheit und erklärt, wie wir das, was wir heute sind, geworden sind. Der japanische Philosoph übersetzt die Theorien Marx' in die Gegenwart und übt Kritik am Kapitalismus und seinem Wachstumsdiktat. Der eine analysiert und liefert Erklärungen, der andere sucht nach Lösungen und Veränderungen. Also trotz weniger Gemeinsamkeiten doch eine spannende Verbindung, die beiden Denker auf der Bühne zu erleben.

 

„We need to slow down fast!“

Um Verbindungen geht es auch im neuen Buch „Nexus“ von Harari, nämlich darum, wie Informationen alles verbinden. Er liefert darin einen mediengeschichtlichen Rundumschlag: „Eine kurze Geschichte der Informationsnetze von der Steinzeit bis zur KI". Er wundert sich über den naiven Optimismus und warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Denn der Blick in die Geschichte zeigt, dass es schon immer darum ging, mit Informationen nicht die Wahrheit abzubilden, sondern Verbindungen zu schaffen. Infos halten Menschen beschäftigt, Harari spricht von „engagement“ – und neue Technologien setzen nicht auf Fakten, sondern Emotionalisierung: es geht darum, Empörung und Angst hervorzurufen, um die Menschen ständig an sich zu binden. Doch das Hirn braucht Langeweile, um Kraft zu tanken und kreativ zu sein. „We need to slow down fast!“ ist seine Forderung.

Auch Saito unterstützt die Forderung nach Entschleunigung. Er hat in seinem Buch „Systemsturz“ die Theorie des „Degrowth Communism“ entworfen. Bei Degrowth gehe ich voll mit, bei Marxismus habe ich meine Probleme. Nichtsdestotrotz ist ein Blick von außen – also von einen Wissenschaftler aus einem anderen Kulturkreis – auf die Theorien von Marx spannend. Er übt nicht nur Kritik am Wachstumsglaube, sondern versteht seinen Degrowth-Kommunismus als Bewegung, als eine neue Form zu leben.

Wer will schon Müll konsumieren?

Und während Harari die Zuhörenden ratlos zurücklässt, was man nun mit seinen Erkenntnissen anstellen soll, liefert Saito einen augenzwinkernd-versöhnlichen Ausblick: Harari sagte zu Beginn seiner Ausführungen, der größte Teil der Infos im Netz sei Junk, es gehe nicht um Wahrheit oder Lüge. Wenn nun immer mehr Menschen verstehen, dass unser digitaler Alltag voller Junk ist und sie sich dieser Informationsmüllmaschinerie entziehen und wirklich auf Entschleunigung setzen, gibt es Hoffnung: Für (klassische) Medien, die Qualitätsjournalismus liefern und somit wieder ihrer Rolle als Gatekeeper gerecht werden können. Denn keine:r will Müll konsumieren, oder? 

 

 

Weniger ist mehr, es geht nicht um eine Dauerberieselung mit Negativtriggern, es geht um Wissen. Und Wissen entsteht nur in den Köpfen der Menschen – doch sind die Informationen die entscheidende Grundlage zur Wissensbildung. Gehen wir sorgfältig mit ihnen um!