· 

Afrofuturismus, Postkolonialismus und Kultur als Kampfbegriff

Die Europawahlen haben gezeigt, dass Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der europäischen Gesellschaft angekommen ist. Rechtes Gedankengut wird öffentlich ausgesprochen und es wird damit Meinung und Politik gemacht. Vor der Fußball-EM in Deutschland sorgte eine Umfrage für Aufregung, der zufolge sich jede:r Fünfte mehr Fußballspieler mit weißer Hautfarbe in der deutschen Nationalmannschaft wünsche.

Wege aus der „kolonialen Amnesie“

Dieser Alltagsrassismus ist nicht neu, sondern begleitet uns Deutsche schon seit Jahrzehnten. Ein Grund kann sein, dass wir unsere Kolonialgeschichte nicht wirklich aufgearbeitet haben. Wir sind sensibel gegenüber Antisemitismus, aber nicht gegenüber Rassismus aufgrund von Hautfarbe. Dabei geht die schwarze deutsche Geschichte viel weiter zurück, als die meisten von uns denken. Prof. Dr. Natasha A. Kelly, Kommunikationswissenschaftlerin, Autorin und Künstlerin, spricht in ihrem Vortrag „Afrofuturismus 2.0“ auf der re:publica24 davon, dass Deutschland nach dem ersten Weltkrieg in eine „koloniale Amnesie“ verfallen ist – in der deutschen Geschichte, wie sie an Schulen oder Universitäten gelehrt wird, finden schwarze Persönlichkeiten keinen Platz.

 

Wer kennt z.B. den US-amerikanischen Historiker und Soziologen W. E. B. Du Bois, einen der ersten Antirassismusforscher, der in den 1890er Jahren u.a. in Berlin und Heidelberg bei Max Weber studiert hat und Deutschland in den 1920ern und 1930ern bereiste? Durch seine Science-Fiction-Kurzgeschichte The Comet gilt er als ein Pionier des Afrofuturismus. Der Begriff wurde vor allem in den 1990ern geprägt. Spannend ist, dass Zeit nicht linear gedacht wird, so kann die Zukunft in der Vergangenheit liegen: „Zeit in einem afrozentrischen Kontext ist zirkulär“, alles bedingt sich gegenseitig.

 

Inzwischen ist Afrofuturismus nicht nur kreativer Ausdruck in der Literatur, Kunst und Musik und ein Kommunikationsmittel in der Diaspora. Er ist eine digitale Revolution, mit Social Media wird der Afrofuturismus Gegenstand von sozialen Bewegungen wie der Black-Lives-Matter-Bewegung. Natasha A. Kelly fasst es zusammen: „Um den Weg vor uns zu verstehen, müssen wir erst den langen, langen Weg zurück in die Zukunft machen“.

Keine Angst vor Diskussionen

Dr. Mithu Sanyal, Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin empfiehlt in ihrem Talk „Wer hat Angst vor Postkolonialer Theorie und Identitätspolitik“, politische Debatten weniger moralisch aufzuladen. Sie wünscht sich mehr Pragmatismus: Denn man müsse sich nicht bei allem einig sein, entscheidend ist es, sich respektvoll zu begegnen. Oft werden Diskussionen auf einen Punkt heruntergebrochen, bei dem sich die Diskutierenden uneins sind – somit werden im Grunde künstliche Gräben geschaffen. Menschen sind differenzierter, Meinungen nicht bloß pro oder contra.

 

Ich frage mich, ob wir durch solche Mechanismen der Verkürzung und Vereinfachung, wie sie oft in den Medien eingesetzt werden, nicht verlernen zu streiten, andere Meinungen auszuhalten und zuzulassen? Und dadurch eben auch neue Perspektiven zu erhalten, solche Aha-Erlebnisse, bei denen ich mir denke: „So kann man das also auch sehen!“ Mithu Sanyal spricht davon, dass es ganz oft um Macht geht, indem man sich besserwisserisch verhält, aber auch darin, dass diejenigen, die Widerstand leisten, oft perfekter sein müssen, obwohl sie weniger Macht haben, als diejenigen, die (bereits) an der Macht sind. Eine Ursache für dieses Denken in Extremen, für dieses (zu) schnelle Kategorisieren könnte in der Coronapandemie liegen. Wir müssen (wieder) lernen, dass andere Meinungen durchaus ok sind und sollten hingegen eher kritisch hinterfragen, wenn alle einer Meinung sind – denn es braucht bei Diskursen den Aushandlungsprozess. „Retten wir die Welt damit, indem wir Leute beschämen? Oder gefährden wir dadurch den Diskurs mehr?“

Die Praxis der Kulturalisierung

Mag sein, dass meine Entscheidung, den Vortrag „‚Aggro-Araber‘, ‚Remigration‘ und die deutsche Debatte um den Krieg in Nahost: Über eine Diskursverschiebung mit Folgen“ von Khola Maryam Hübsch zu besuchen, auch unbewusst darauf beruhte, andere Meinungen zuzulassen; denn eigentlich war mir der Titel viel zu reißerisch und plakativ. Und insgeheim wollte ich mich auch nicht mit dem schmerzlichen Thema Palästina-Israel auseinandersetzen, da ich Freunde habe, deren Familien in Gaza leben. Doch ich wurde positiv überrascht durch einen fundierten und zugleich empathischen Vortrag, der nahtlos anknüpft: „Demokratie lebt von gutem Streit, von konstruktivem Austausch“, so steigt die Journalistin und Publizistin Khola Maryam Hübsch ins Thema ein. Es gehe in den heutigen Debatten oft nicht mehr darum, das Gegenüber zu verstehen, sondern lediglich darum, das Gegenüber zu diskreditieren. Sie spricht davon, dass „Missstände kulturalisiert und emotionalisiert werden“.

 

Bei dem Begriff der Kulturalisierung werde ich als Kulturanthropologin hellhörig, ich denke sofort an das „Othering“, also an die Einteilung in Wir und die Anderen. Es werden künstliche Grenzen gezogen, oft übrigens dann, wenn man sich eigentlich sehr nahe ist und deshalb besonders die Andersartigkeit, die Fremdheit betonen will. Die Praxis der Kulturalisierung legt „die Kultur“ als deterministischen Faktor für Handlungen und Verhaltensweisen zugrunde.

 Früher war es die Biologie, die angeborenen Gene, warum wir manches konnten und manches nie lernen würden, heute ist es unsere „Kultur“, sind es unsere Werte, unsere Religion, die uns prägt – und der wir nicht entkommen können. Dass das absoluter Murks ist, versteht sich hoffentlich von selbst: es gibt nicht „die Kultur“ eines Menschen oder einer Gesellschaft, noch ist der Kulturbegriff statisch oder deterministisch, ganz im Gegenteil, Kulturen sind immer fluide, offen und verändern sich stetig – auch wenn versucht wird, sie undurchdringlich zu machen oder vor äußeren Einflüssen zu „schützen“.

 

Aber zurück zum Vortrag, in dem Khola Maryam Hübsch ein dreistufiges Diskursmuster vorstellt:

  1. Entpolitisierung der Missstände: Ursache für eine Situation sind die Gene, die Werte, die Kultur, die Religion, die Herkunft – in einem deterministischen, nicht-veränderlichen Verständnis. Schuld ist „die Kultur“ – und diese lässt sich (genauso wie die Gene) durch Politik nicht ändern. Die Schlussfolgerung daraus ist ein Verständnis, dass man politisch nicht viel tun kann und muss: Bildung, Integration, Armutsbekämpfung – all das bringt nicht viel, weil „die Kultur“ den Lebensweg der Menschen eh schon vorzeichnet.
  2. Entsolidarisierung: Mit dieser Argumentation als Grundlage können dann Mehrheitsgesellschaften marginalisierten Gruppen ihre Solidarität verweigern. Denn wieso soll man solidarisch sein mit Menschen, die sich durch „ihre Kultur“ selbstverschuldet ins Abseits gebracht haben? Kultur ist jedoch nur ein Faktor von vielen. Hübsch fordert „Struktur statt Kultur“ bei der Analyse von Missständen. Denn die Praxis der Kulturalisierung führt ganz oft zu Diskursverschiebungen, Probleme werden externalisiert im Sinne von „die Fremden/die Anderen sind schuld“. Eine scheinbar positive Folge ist die Entlastungsfunktion für die Mehrheitsgesellschaft.
  3. Repression: Die letzte Stufe ist es dann, Restriktionen zu fordern, statt Diskursräume zu eröffnen. Somit kehrt sich die scheinbar positive Folge der Entlastung ins Gegenteil um, indem das Dulden von Repressionen einem autoritären Staatsverständnis den Weg ebnen kann.

Khola Maryam Hübsch verdeutlicht dieses Muster der Diskursverschiebung anhand des Gazakriegs. Indem der Antisemitismus-Vorwurf instrumentalisiert wird, kann nicht mehr sachlich diskutiert werden. Wir sollen nicht mehr über Kriegsverbrechen, sondern vor allem über Antisemitismus sprechen. Das hilft aber herzlich wenig bei der Lösungsfindung, ganz im Gegenteil.

 

Mir hat dieser Vortrag die Augen geöffnet. Natürlich war mir klar, dass ich durch mein Studium der Kulturanthropologie ein differenzierteres Verständnis von Kultur und Kulturen habe als viele andere Menschen. Aber dass sich Kultur inzwischen zu einem Kampfbegriff entwickelt hat, dass Kultur (wieder) missbraucht wird, um Gruppen auszugrenzen und sie kollektiv zum Sündenbock zu machen, das schockiert mich sehr.

 

Jedes Kultur in Anführungszeichen hat in mir innerlich Abwehr ausgelöst – ich möchte nie mehr wieder „die Kultur“ schreiben müssen.